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Glossarbeitrag

Was ist das Dual Operating System (Kotter)?

Das Dual Operating System (DOS) nach John P. Kotter organisiert eine Unternehmung parallel als hierarchische Linienstruktur für Stabilität und Betrieb und als netzwerkartiges System für Strategie, Innovation und Veränderung. Beide Systeme arbeiten bewusst zusammen: Die Linie sichert Verlässlichkeit, das Netzwerk erhöht Reaktionsgeschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit. 

 

Ursprung und Zweck 

Klassische Hierarchien sind exzellent im Skalieren und Steuern, aber träge in dynamischen Märkten. Das DOS löst dieses Dilemma, indem es ein zweites System schafft, das Chancen schnell erkennt, Experimente diszipliniert steuert und validierte Wetten in den Betrieb überführt – ohne das Kerngeschäft zu gefährden. 

 

Kernelemente 

- Zwei Systeme, ein Unternehmen: Linie = Betrieb & Effizienz; Netzwerk = Strategie & Innovation 

- Prinzipien und Accelerators: Dringlichkeit, Guiding Coalition, Volunteer Army, Barrieren abbauen, sichtbare Erfolge, Beschleunigung, Verankerung 

- Freiwillige Energie statt Zwang: Engagement entsteht durch Sinn, Vision und erlebbaren Impact 

- Komplementarität: Netzwerk übernimmt Sensing/Seizing; die Linie verantwortet Execution/Scaling 

 

Anwendung und Best Practices 

- Balance & Entscheidungsrechte klären: Wer entscheidet worüber? Wie fließen Budgets und Kapazitäten zwischen Linie und Netzwerk? 

- Guiding Coalition reputationsbasiert aufbauen: cross-funktional, glaubwürdig, mit Mandat 

- Netzwerkarbeit als Hypothesen-Portfolio führen: klare Timeboxes, explizite Stop/Go-Kriterien, sichtbare „Short-Term Wins“ 

- Übergabe in die Linie managen: definierte Brückenrollen, Integrations-Boards, technische/prozessuale „Handover Contracts“ 

- Duales Messsystem etablieren: Linie misst Effizienz/Qualität/Compliance; Netzwerk misst Lernfortschritt, Innovations-Durchsatz, Time-to-Market und Outcomes 

- Arbeitslast steuern: Priorisierung und Entlastung für Mitarbeitende, die in beiden Systemen arbeiten 

 

Praxisbeispiele 

SAFe-Organisationen: 

Aufbauorganisation (Linie): verantwortet Besetzung, Einstellung, disziplinarische Führung, fachliche Entwicklung und Ressourcenbereitstellung (People Management). 

Lieferorganisation (Netzwerk): organisiert als Development Value Stream Network (Development Value Streams, Agile Release Trains, Teams). Lean Portfolio Management allokiert Budgets an Wertströme (mit Guardrails). Business Owners und Product Management tragen die Produkt- und Ergebnisverantwortung. Portfolio-Kanban steuert Epics, WSJF priorisiert, PI-Kadenz mit Inspect & Adapt schließt Lernschleifen. Ein LACE ist eine kleine, dedizierte Enablement-Einheit; es bildet häufig den Kern einer breiteren Guiding Coalition, ersetzt sie aber nicht. 

Industrie & Plattformen: Digitale Plattform-/IoT-Initiativen werden im Netzwerk aufgebaut, während das industrielle Kerngeschäft die Lieferfähigkeit sichert; entscheidend ist die skalierte Integration in die Linie. 

Automobilbranche: Parallelbetrieb von Verbrenner-Geschäftsmodellen in der Linie und EV/Software-Ventures im Netzwerk; Governance adressiert Kannibalisierung und Schnittstellen. 

Finanzdienstleistung: Agile Innovationsnetzwerke neben streng regulierten Linienprozessen – faktisch ein DOS mit klarer Trennung von „Run“ und „Change“. 

 

Kritik und Grenzen 

- Schnittstellenprobleme: Ohne explizite Integrationsmechanismen versanden Innovationen im „Pilotfriedhof“. 

- Kulturelle Spannungen: Netzwerkakteure werden als privilegiert wahrgenommen, die Linie als bürokratisch; gemeinsame Narrative, Rotationen und Austauschformate sind Pflicht. 

- Überlastung: Doppelrollen ohne Priorisierung führen zu Stress, Reibungsverlusten und Burnout. 

- Parallelbürokratie: Zu schwere Netzwerk-Governance konterkariert das Ziel der Agilität. 

- Führungsparadoxon: DOS verlangt das gleichzeitige Fördern von Effizienz und Exploration; diese Kompetenz ist selten. 

- Skalierungsrisiko: Gute Ideen scheitern an Budget-, Prozess- oder Systeminkompatibilitäten, wenn die Brücken in die Linie fehlen. 

- Kontextgrenzen: In stabilen Märkten oder in KMU kann ein volles DOS überdimensioniert sein; leichtere, sequentielle Ansätze sind oft wirksamer. 

 

Einbettung und Kombination 

- Ambidextrous Organization: DOS ist das operative Design, um Exploitation (Linie) und Exploration (Netzwerk) parallel zu ermöglichen. 

- Dynamic Capabilities: Institutionalisierung von Sensing, Seizing, Transforming (Radare/Insights → Options-Backlog → Re-Orchestrierung von Ressourcen). 

- SAFe: Netzwerkseite über Development Value Streams, ARTs, Teams; Lean Budgets & Guardrails finanzieren Wertströme, Portfolio-Kanban/WSJF priorisieren; I&A/PI-Kadenz sichert Lernen. LACE als dedizierte Enablement-Einheit bildet häufig den Kern einer Guiding Coalition, ersetzt sie aber nicht. Aufbauorganisation verantwortet People-Themen; Lieferorganisation verantwortet Budgets (via LPM), Produkte und Outcomes. 

- Living Transformation®: Macht Veränderung zum kontinuierlichen Rhythmus (begrenztes WIP im Transformations-Backlog, klare Lern- und Entscheidungszyklen) – genau die Disziplin, die das Netzwerk braucht. Kritisch: harte Stop-Disziplin nötig. 

- Living Strategy: Ergänzt DOS um eine rollierende, outcome-zentrische Strategiekaskade (dynamische Ressourcenallokation, explicit Kill-Kriterien, Kopplung von Leading/Lagging Indicators bis auf ART-/Team-Ziele). Kritisch: Incentives/ Karrierelogiken müssen Outcome-orientierung stützen. 

 

CALADE-Perspektive 

Wir verbinden DOS, SAFe-Praktiken, Living Transformation® und Living Strategy zu einem konsistenten Strategy-to-Execution-System: Design des Strategienetzwerks, Aufbau von LACE/Guiding Coalition, saubere Schnittstellen & Lean Governance, Lean Budgets & Guardrails, duales Kennzahlensystem, Coaching paradoxen Führungsverhaltens. Ziel: messbare Outcomes statt Strukturkosmetik. 

 

Verweise auf verwandte Glossarartikel 

- Ambidextrous Organization 

- Dynamic Capabilities 

- Lean-Agile Center of Excellence (LACE) 

- Lean Portfolio Management (SAFe) 

- Organize Around Value (SAFe) 

- Leading and Lagging Indicators 

- Living Transformation® 

- Living Strategy 

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