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Glossarbeitrag

Was sind organisatorische Schulden (Org-Debt)?

Organisational Debt bezeichnet die aufgelaufenen strukturellen, prozessualen und kulturellen Altlasten einer Organisation – z. B. veraltete Richtlinien, Rollenmodelle, Entscheidungswege oder Gewohnheiten –, die den heutigen Wertfluss verlangsamen und Kosten „in Zinsen“ verursachen (mehr Koordination, Wartezeiten, Rework). Der Begriff wurde u. a. von Steve Blank geprägt („Organizational debt is like technical debt — but worse“) und von Aaron Dignan (Brave New Work) erweitert als „Zinslast, die entsteht, wenn Strukturen/Policies fix bleiben, während die Welt sich ändert“. 

 

 

Praxisbezug 

Typische Quellen von Org-Debt: 

- Menschen-/Policy-Kompromisse bei schnellem Wachstum („erst liefern, später ordnen“). 

- Veraltete Prozesse und Bürokratie (mehrstufige Freigaben, starre Budgetlogiken). 

- Fehlende oder überreife Strukturen (zu flach ohne klare Levels/Entscheidungsrechte oder zu viele Layers). 

Silo-Optimierung (lokale Regeln/Tools ohne End-to-End-Sicht). 

Symptome/„Zinsen“: steigende Lead-/Cycle Times, Meeting-Inflation, Abhängigkeitsspaghetti, Ausnahmegenehmigungen, Mitarbeiterfrust und Fluktuation. In Summe blockiert Org-Debt Agilität und Transformation. 

 

Abgrenzung: Technical Debt betrifft Code/Architektur; Organisational Debt betrifft Aufbau-/Ablauforganisation, Policies und Kultur – beide können sich gegenseitig verstärken. 

  

 

Typische Missverständnisse 

❌ „Nur ein Konzernproblem“ – Startups akkumulieren früh massiv Org-Debt (Ad-hoc-Rollen, fehlende Policies) und zahlen später hohe Zinsen beim Skalieren. 

❌ „Eine Re-Org löst alles“ – Strukturänderung ohne Policy-Refactoring verlagert Altlasten nur. 

❌ „Dasselbe wie Tech-Debt“ – Ursachen und Maßnahmen unterscheiden sich deutlich, auch wenn Effekte ähnlich sind. 

❌ „Bürokratie schützt Qualität“ – Übermaß an Regeln erzeugt Trägheit; Dignan beschreibt „Org-Debt erzeugt Bürokratie, Bürokratie schützt Org-Debt“. 

  

 

Relevanz für Organisationen 

Studien zeigen: veraltete Policies und Strukturen sind ein Hauptrisikofaktor für Transformationen und Agilitätsinitiativen. Sie verlängern Durchlaufzeiten, erhöhen Koordinationskosten und mindern Anpassungsfähigkeit. In wissensintensiven Organisationen wird Org-Debt zu einem direkten Roadblock für Wertfluss. 

 

 

Beispiel aus der Praxis 

Ein schnell wachsendes SaaS-Unternehmen hielt an einer „flachen Organisation“ ohne Rollenlevels fest. Folge: unklare Verantwortlichkeiten, langsame Entscheidungen, Überlastung von Seniors. Nach einer Org-Debt-Inventur wurden Levels und Entscheidungsrechte eingeführt, alte Freigabepflichten entfernt. Ergebnis: klarere Ownership, kürzere Entscheidungszeiten, weniger Eskalationen. 

 

 

Strategien zum Abbau 

- Inventur („Org-Debt Ledger“): Liste veralteter Policies/Prozesse/Rollen mit „Zinsmetriken“ (z. B. Tage Wartezeit, Meetingstunden). Priorisieren nach Cost of Delay. 

- Sunset-& Simplify-Reviews: Ablaufdaten für Policies, Minimal Viable Policy statt Vollkasko-Regeln. 

- Decision-Rights klären: Delegations-Guides, explizite Entscheidungsrechte, Guardrails statt Mikromanagement. 

- End-to-End-Flow: Wertstromsicht nutzen; Policies am Flow messen (Lead Time, Vorhersagbarkeit). 

- Policy-Experimente: Befristete Experimente (z. B. Wegfall bestimmter Freigaben), Wirkung messen, dann entscheiden. 

- Capabilities aufbauen: Rollenarchitektur, Enablement, Plattform-Self-Service zur Abhängigkeitsreduktion. 

 

 

So nutzen gute Coaches Org-Debt als Hebel 

- Diagnose: Heatmaps der größten „Zinszahler“. 

- Hypothesen & Experimente: Policies wie Hypothesen behandeln, testen und ggf. killen. 

- Messung: Vorher/nachher in Lead Time, Queue Length, Entscheidungsdauer. 

- Integration mit Tech-Debt: Architektur- und Org-Schulden gemeinsam angehen. 

- Governance: leichtgewichtige Boards für Sunset-Entscheide, kein Overhead. 

 

 

Living Strategy & Living Transformation® im Umgang mit Org-Debt  

Kritische Einordnung: Klassische Großprogramme scheitern oft, weil Debt-Items zu abstrakt bleiben oder „auf einmal“ angegangen werden. Ohne Kapazität und Kadenz werden Policies nicht nachhaltig verändert. 

- Living Strategy: 

- Macht Org-Debt sichtbar im Strategy Backlog. 

- Priorisiert Debt-Items nach ökonomischem Effekt (Cost of Delay). 

- Testet Hypothesen in Strategy Sprints (2–3 Monate): z. B. „Wenn wir Freigaben < 5.000 € abschaffen, sinkt Entscheidungszeit um 40 %“. 

 

- Living Transformation®: 

- Sichert Kapazität zur Debt-Tilgung über das Capa-Event. 

- Zerlegt große Debt-Blöcke in Transformation Features mit klaren Acceptance-Kriterien. 

- Liefert in 3-Monats-Transformation Increments (TI) konkrete Ergebnisse („Policy X abgeschafft; Entscheidungszeit < 3 Tage in 80 % der Fälle“). 

- Measure & Improve misst Wirkung vor/nach und entscheidet Kill/Scale. 

Kombination: Living Strategy gibt die Priorisierung und Hypothesen, Living Transformation liefert Inkremente und Nachweise. Ergebnis: Org-Debt wird nicht nur diskutiert, sondern sichtbar reduziert – mit überprüfbarer Rendite. 

 

 

 

CALADE-Perspektive 

Wir behandeln Organisational Debt wie ein Portfolio-Risiko: sichtbar machen, priorisieren, Kapazität sichern, inkrementell abbauen und Wirkung messen. Dabei kombinieren wir Living Strategy® (Strategie-Sprints, Backlog, Hypothesen) und Living Transformation® (3-Monats-Kadenz, Capa-/Prio-Events, TI-Lieferung). So gelingt es, Altlasten nicht nur zu identifizieren, sondern quartalsweise nachweislich abzubauen – ohne Big-Bang, mit klarer Wirkung für Wertströme. 

 

  

Weiterführende Begriffe 

- Technical Debt – Abgrenzung und Parallelen. 

- Flow Accelerators (SAFe) – „Remediate Legacy Policies and Practices“. 

- Team Topologies / Decision Rights – Struktur gegen Org-Debt. 

- Value Stream Management – Flow-Metriken. 

- Brave New Work (Aaron Dignan) – Bürokratie und Debt. 

 

 

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