Change Fatigue beschreibt einen Zustand emotionaler und kognitiver Erschöpfung, Abstumpfung oder Apathie gegenüber organisatorischen Veränderungen – ausgelöst durch zu viele, zu schnelle oder schlecht integrierte Change-Initiativen. Wichtig: Change Fatigue ist keine medizinische Diagnose; sie überschneidet sich mit Arbeitsstress, ist aber von Burn-out (ICD-11) zu untersch Aeiden. Burn-out wird von der WHO als Syndrom infolge chronischen, schlecht gemanagten Arbeitsstresses beschrieben.
Praxisbezug
In vielen Organisationen hat die Frequenz geplanter Veränderungen drastisch zugenommen. Studienberichte zitieren, dass Mitarbeitende 2022 im Schnitt zehn größere, geplante Veränderungen erlebten – 2016 waren es zwei. Folge: sinkende Aufnahmefähigkeit, Widerstand, resignatives Mitmachen, Qualitätsabfall und verzögerte Adoption. Typische Signale sind Zynismus, „Dienst nach Vorschrift“, Anstieg von Fehlzeiten oder Projektverzögerungen.
Typische Missverständnisse
- „Widerstand kommt von den Leuten“ – häufig ist es Portfolioversagen: zu viele Initiativen gleichzeitig, schlecht priorisiert, ohne Koordination (Change-Kollision).
- „Mehr Kommunikation löst es“ – Menge ersetzt nicht Sinnstiftung. Was fehlt, ist Kohärenz (Warum, Wozu, Folgen für Betroffene) und echte Partizipation.
- „Einfach härter pushen“ – Druck verschärft Ermüdung. Erst Last steuern, dann liefern.
Relevanz für Organisationen
Veränderungsmüdigkeit ist kein weiches Kulturthema, sondern ein Performance-Risiko: erschwerte Adoption, niedriger Durchsatz in Transformationsportfolios und steigende Fehlerraten. Breite Untersuchungen zeigen, dass Transformationserfolg selten ist – rigoroses, kapazitätsbewusstes Vorgehen verdoppelt die Erfolgswahrscheinlichkeit gegenüber Ad-hoc-Ansätzen. Wer Change-Last aktiv managt, erhöht Tempo, Verlässlichkeit und Engagement.
Beispiel aus der Praxis
Ein Bereich fährt parallel eine Re-Org, neues ERP, Security-Rollouts und eine Kunden-Journey-Initiative. Symptome: Überlastete Schlüsselrollen, „Schattenpriorisierung“ in den Teams, Terminrutschen. Nach Change-Portfolio-Sichtung werden Vorhaben sequenziert, WIP für große Streams gedeckelt, Abhängigkeiten klar gezogen und monatliche Kapazitätsreviews eingeführt. In den folgenden Quartalen stabilisieren sich Adoption und Liefertermine – nicht, weil mehr gearbeitet wird, sondern weil gleichzeitig weniger Unvereinbares gestartet wird. (Mechanismen vgl. Prosci „Change Saturation/Collision“ & HBR-Empfehlungen zu Fokussierung.)
Strategien zur Prävention & Linderung (für Experten)
A. Change-Last sichtbar machen (Diagnose)
Change-Portfolio inkl. Sättigung pro Einheit/Persona abbilden; Kollisionen (gleiche Zielgruppen/Zeitfenster) markieren; Aufnahmefähigkeit messen (Zeitbudgets, Key-Rollen). Tools/Assessments helfen, Sättigung und Impact objektiv zu erfassen.
B. WIP begrenzen & sequenzieren (Systemsteuerung)
Maximal x gleichzeitige Veränderungen pro Zielgruppe; Sequencing statt paralleler Großvorhaben; harte Eintrittskriterien (DoR) in die Pipeline; „Stop Starting – Start Finishing“. (Entspricht Lean/Flow-Logik hinter Little’s Law.)
C. Kohärenz & Sinnstiftung
Klare Narrative („Warum jetzt? Was ändert sich? Worin liegt mein Vorteil/WIIFM?“), Feedback-Schleifen, und messbare Outcomes statt Maßnahmendruck. (ADKAR-Bezug: Awareness/Desire)
D. Kapazität vor Planung
Ressourcen real hinterlegen (Zeitanteile, Enablement), bevor Roadmaps committed werden; Key-Rollen entkoppeln (Backfill/Rotation), um Erschöpfung zu vermeiden.
E. Beteiligung & Mitgestaltung
Betroffene früh einbinden (Co-Design, Piloten, Experiment-Sprints); lokale Anpassbarkeit der Umsetzung zulassen, statt Uniformität zu erzwingen.
F. Führungshandeln
Zuhören, Belastung ernst nehmen, Tempo anpassen, psychologische Sicherheit aktiv fördern; nicht „Change verkaufen“, sondern Konsequenzen managen.
G. Rhythmus & Kadenz
Feste Change-Zeitfenster, Blackout-Periods in Peak-Zeiten, Release-/Adoption-Kalender – damit Teams planen können und Recovery-Phasen gesichert sind. (Praxisleitlinien in HBR/Prosci)
H. Medizinische Abgrenzung & Fürsorge
Change Fatigue ≠ Burn-out. Burn-out erfordert organisationsweite Präventions- & Unterstützungsmaßnahmen (Arbeitsgestaltung, Lastreduktion, Zugang zu Hilfe).
So arbeiten gute Coaches damit (konkret)
- Heatmap der Change-Sättigung je Einheit/Persona, monatlich aktualisiert.
- Governance: Portfolio-Board mit Eintrittskriterien, WIP-Limits und Sequenzregeln; eindeutige Kill/Defer-Entscheide.
- Monitoring: Adoptions-, Resistenz- und Belastungsindikatoren (z. B. Teilnahmequote, Incident-Spitzen, Quality Drift).
- Enablement: Führungskräfte in Sinnstiftung, Zuhören, Priorisieren schulen; Betroffenen Gestaltungsräume geben.
CALADE-Perspektive
Wir adressieren Change Fatigue systemisch, nicht symptomatisch: Change-Portfolio/Load sichtbar machen, WIP begrenzen, Sequenzierung durchsetzen, Narrativ & Partizipation sichern und Kadenz etablieren. Wo sinnvoll, koppeln wir das an Living Transformation® (3-Monats-TI, klare Events/Capacity-Regeln) und Living Strategy® (Strategy-Sprints), damit Veränderung planbar, anschlussfähig und menschengerecht bleibt – ohne Dogmen.
Weiterführende Begriffe
- Change Saturation / Collision (Prosci), ADKAR – People-Centric Change.
- Little’s Law, WIP-Limiting – Flow-Logik gegen Überlast.
- Psychologische Sicherheit – Voraussetzung für ehrliches Feedback.
- Burn-out (ICD-11, WHO) – Abgrenzung & Prävention.
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