EN

Glossarbeitrag

Was sind Technische Schulden (Technical Debt)?

Technische Schulden sind Design- oder Implementierungsentscheidungen, die zukünftige Änderungen verteuern oder erschweren. Der Begriff geht auf Ward Cunningham (1992) zurück: Er verglich unvollständigen oder suboptimalen Code mit einem Kredit – er ermöglicht zunächst schnelle Lieferung, verlangt jedoch „Zinsen“ in Form erhöhter Wartungs- und Anpassungskosten, wenn er nicht zeitnah getilgt wird. 

 

  

Praxisbezug 

Arten von technischer Schuld: 

- Code-Schulden (unsauberer, redundanter oder komplexer Code). 

- Architektur-Schulden (ungeeignete oder überholte Strukturen, enge Kopplung). 

- Test-Schulden (fehlende oder instabile Tests). 

- Build-/Deploy-Schulden (manuelle oder fragile Pipelines). 

- Dokumentationsschulden (fehlende oder veraltete Doku). 

 

Ökonomisches Modell: 

- Principal (Hauptschuld): Aufwand, die bessere Lösung jetzt zu implementieren. 

- Interest (Zinsen): wiederkehrende Zusatzkosten, z. B. längere Entwicklungszeit, mehr Defekte. 

- Interest Rate (Zinssatz): steigt in Codebereichen, die häufig geändert werden („Hotspots“). 

 

Intent & Qualität der Entscheidung (Fowler-Quadrant): 

- Absichtlich vs. unbeabsichtigt × umsichtig vs. leichtsinnig → vier Typen. 

- „Absichtlich-umsichtig“ kann nützlich sein (bewusste Markteinführung trotz Kompromiss). 

- „Unabsichtlich-leichtsinnig“ führt fast immer zu Problemzinsen. 

 

 

 

Typische Missverständnisse 

❌ „Technische Schulden = Bugs“ – Fehler sind Defekte; Schulden betreffen die Wartbarkeit und Evolvierbarkeit des Systems. 

❌ „Tools liefern die ganze Wahrheit“ – SonarQube/SQALE schätzen v. a. Maintainability-Schulden (Code Smells), lassen Architektur-, Test- oder Build-Schulden jedoch oft unsichtbar. 

❌ „Alles neu schreiben löst es“ – Big-Bang-Rewrites verlagern Schulden häufig nur; risikoärmer sind inkrementelle Ansätze (z. B. Strangler-Pattern). 

 

 

 

Relevanz für Organisationen 

Business-Effekt: 

- Eine groß angelegte Studie über 39 kommerzielle Codebasen zeigte: „Low-Quality“-Code enthielt bis zu 15× mehr Defekte und Bearbeitung von Issues dauerte im Schnitt 124 % länger. 

- Die Autoren betonen: Korrelation, keine Kausalität – Ergebnisse gelten für diese Stichprobe, nicht universell. 

- Andere Fallstudien berichten gemischte oder sogar keine Effekte auf Durchlaufzeiten, je nach Kontext und Messmethode. 

Fazit: Technische Qualität ist Business-relevant, aber die Wirkung ist kontextabhängig – Organisationen müssen eigene Messungen durchführen. 

 

 

Beispiel aus der Praxis  

Ein Finanzdienstleister identifizierte einen Hotspot-Service (häufig geändert, hoher Komplexitätswert). Folge: lange Durchlaufzeiten, Fehler in Releases. Durch Hotspot-Analyse und Untersuchung zeitlicher Kopplung wurden Abhängigkeiten sichtbar. Das Team extrahierte eine kleinere Komponente, ergänzte Tests und CI-Checks. Ergebnis: verkürzte Cycle Times und geringere Fehlerquote im betroffenen Wertstrom. 

 

  

Strategien: Vermeiden, Managen, Abbauen 

 

A. Sichtbar machen & bewerten 

- Debt-Register (Items mit Principal/Interest), Heatmaps für Hotspots, Architektur-Reviews. 

- Tools (SonarQube, SQALE) nutzen – aber nur als Teilindikator. 

 

B. Priorisieren nach Ökonomie 

- Schulden nach Cost of Delay (CoD)/WSJF und Hotspot-Score priorisieren. 

- Bewusste Schulden mit Tilgungsplan versehen. 

 

C. Tilgen im Fluss 

- Kontinuierliches Refactoring im laufenden Betrieb. 

- Architektur-Enabler explizit planen. 

- Strangler-Pattern für Legacy-Systeme einsetzen. 

 

D. Qualitätsroutinen & Definition of Done 

- TDD, automatisierte Tests, CI/CD, Code-Reviews. 

- Definition of Done explizit mit Refactoring/Tests erweitern. 

 

E. Wirkung messen 

- Kombination aus Maintainability-Metriken (z. B. Sonar) und Flow-Metriken (Lead-/Cycle Time, Defektdichte, Change Failure Rate). 

Wichtig: Ratings sind Indikatoren, kein absolutes Urteil. 

 

 

 

So arbeiten gute Coaches

- Baseline erstellen: Debt-Register + Hotspot-Map. 

- Ökonomisch priorisieren: WSJF × Hotspot-Score → Top-Items. 

- Tilgung in Cadence: fixe Refactoring-Slots oder Enabler in jedem PI/Sprint. 

- Architektur-Schulden gesondert managen: Schnitt, Abhängigkeiten, Observability. 

- Wirkung messen: Fokus auf Outcomes (z. B. kürzere Cycle Time, weniger Defekte), nicht nur „Stunden investiert“. 

 

 

 

CALADE-Perspektive 

Wir sehen technische Schulden als strategisches Risiko im Portfolio. Unser Vorgehen: 

- Sichtbarkeit herstellen (Debt-Register, Hotspot-Analyse). 

- Ökonomisch priorisieren (CoD, WSJF). 

- Verbindliche Kapazität sichern (Refactoring-/Enabler-Slots). 

- Inkrementell tilgen und messen. 

Wo organisatorische Policies Schulden verstärken (z. B. starre Freigaben, fehlende Plattform-Capabilities), kombinieren wir die Arbeit mit Organisational Debt, Living Strategy (Priorisierung, Strategy Sprints) und Living Transformation® (3-Monats-Kadenz, Capa-/Prio-Events). So entsteht ein ganzheitlicher Schuldenabbau, der Technik und Organisation verbindet. 

 

 

 

 

Weiterführende Begriffe & Quellen 

- Ward Cunningham: Debt Metaphor (1992). 

- Martin Fowler: TD-Quadrant. 

- SEI/CMU – Managing Technical Debt (Kruchten, Nord, Ozkaya). 

- Systematische Reviews (Li, Avgeriou u. a., 2015). 

- Hotspots & Temporal Coupling (Tornhill/CodeScene). 

- SonarQube/SQALE – Maintainability Debt Ratio. 

Empirische Business-Impact-Studien – Korrelation zw. Qualität, Defekten & Cycle Time; Kontext beachten.

← zurück zur Übersicht